„Mittlerweile täuschen viele vor, schwul, lesbisch oder trans zu sein, um sich in der Öffentlichkeit wichtig zu machen und ihre Karriere zu pushen.“ Dieser Satz war vor gut einem Jahr mein persönlicher Höhepunkt in einer hitzigen Gartenpartydiskussion.
Kurzer Rückblick
Ich saß mit einigen anderen Gästen im Garten einer Freundin, die ihren Geburtstag feierte. Irgendwann im Laufe des Abends, erzählte ein 14jähriges Mädchen, nennen wir sie T., dass ihr bester Freund (ebenfalls 14) schwul ist und daraus kein Geheimnis macht. Als Reaktion auf sein Coming-Out habe sein Bruder ihm dann erklärt, er sei nun nicht mehr sein Bruder, und in der Klasse wurde er seitdem blöd angemacht und gemobbt.
Die Geschichte machte traurig, die Art aber, wie T. über ihren Freund sprach und wie sie beide mit der Situation umgingen und sich nicht unterkriegen ließen, traf mich mitten ins Herz und das quoll über vor Bewunderung für ihre Courage und dem Wunsch, sie zu unterstützen.
Vor meinem inneren Auge sah ich schon, wie wir Erwachsenen am Tisch ihr Mut zusprachen. Wir würden ein Gegengewicht zu der mobbenden Horde Teenager sein und ihr verständnisvoll die Message „You are ok just like you are“ mit auf den Weg geben.
Denkste!
Stattdessen überraschten mich die beiden Herren neben mir (beide Mitte 60) mit einer Reaktion, die in eine ganz andere Richtung ging. Die nächsten anderthalb Stunden bestimmten sie wortgewaltig die Diskussion.
Mir klingeln vor allen Dingen die folgenden Aussagen der beiden Männer im Ohr. Ungefähr so:
"Warum müssen die (sprich: Schwule und Lesben) das immer so an die große Glocke hängen und so übertreiben? Das interessiert doch keinen. Ich renn ja auch nicht rum und erzähl überall, dass ich hetero bin."
"Viele Schwule, Lesben und Transsexuelle machen sich damit wichtig; tun nur so, um sich interessant zu machen und ihre Karriere zu pushen." (Persönlich kannten die zwei übrigens keinen davon.)
"Ich bin hetero und ein ganz normaler Kerl. Wenn man heutzutage normal ist, ist man ja schon eine Rarität."
Wie bitte?
Eben noch hatten wir über einen 14jährigen Jungen gesprochen, der wegen seiner Homosexualität von der Familie verstoßen und von der Klasse gemobbt wird, und unter all den möglichen Reaktionen wählen diese beiden erwachsenen Männer nun die selbstmitleidige Arie „der queere Mob überrollt mit seinem Exhibitionismus uns normale Männer“! Hä?
Schnell ging es nicht mehr um den Jungen aus Ts Klasse. Das hier war persönlich!
Auf der einen Seite propagierten die beiden Herren ihr Recht aufs ‚ganz normaler Mann sein‘. Auf der anderen Seite übernahm ich ungefragt die Rolle des Sprachrohrs für die gesamte queere Community (nebenbei gesagt, ist das eine unmögliche Aufgabe, sind wir doch alle verschieden und sehr unterschiedlicher Meinung).
Wir lieferten uns ein heftiges Wortgefecht. Jeder hatte seine eigenen guten Argumente, die am Ende wenig faktenorientiert waren. Aber es ging eh nicht um Fakten. Bei solchen Diskussionen geht es nie um Fakten und im Nachhinein denke ich, dass wir mal wieder um den heißen Brei herumgeredet haben.
Worum geht es denn nun wirklich?
Für mich ging es darum: Männer Mitte 60, wie die beiden, die mit mir am Tisch saßen, waren für mich immer die gefühlte Mitte der Gesellschaft; eine Gesellschaft um deren Anerkennung ich mein Leben lang gekämpft habe.
Wie oft hatte ich solchen Männern gegenübergesessen? Dem Psychiater, der mein 16jähriges Ich und seine Probleme als pubertäre Phase abtat; den Gutachtern, die meine Transidentität beurteilten; dem Richter, der sein OK für meine Namens- und Personenstandsänderung geben sollte; dem Endokrinologen, dem Herren über meinen Hormonhaushalt… Sie alle waren mächtiger als ich, saßen am längeren Hebel und entschieden über mein Leben. Sie waren die Gesellschaft.
Und jetzt saß da also diese Gesellschaft in personifizierter Form vor mir, verteidigte ihr ‚Normalsein‘ und wirkte dabei durchaus verunsichert, ja ängstlich.
Am Ende, so denke ich heute, teilten wir alle an diesem Tisch ein Grundbedürfnis: Das Bedürfnis, man selbst zu sein und so akzeptiert zu werden, wie man ist.
Und wir teilten die gleiche Angst, nämlich die Angst, dass dieses Bedürfnis nicht erfüllt wird; dass irgendjemand sagt, wir seien falsch. Jemand der Macht über uns hat. Die Angst, dass die Gesellschaft aus solchen Menschen besteht, die nicht so sind, wie wir und wir keinen Platz mehr haben.
Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, zu verstehen, warum sich die beiden Männer von Schwulen, Lesben oder Transgender bedroht fühlen. Aber Ängste sind oft irrational und wer weiß, wie die Welt aus ihrer Perspektive aussieht?
Anstatt unsere Lebensweisen gegeneinander auszuspielen und Beweise dafür zu suchen, wer ‚ausgegrenzter‘ und ‚benachteiligter’ ist und wer Recht hat, hätten wir über unsere Ängste und unsere Bedürfnisse sprechen sollen. Vielleicht hätten wir damit Brücken gebaut und wären zu dem Schluss gekommen, dass es ok ist, verschieden zu sein.
Und vielleicht hätten wir am Ende sogar festgestellt, dass uns mehr verbindet als uns trennt.