Ehrlich, ich weiß es nicht! Und dabei sollte man doch meinen, dass ich als Transmann eine genaue Vorstellung davon habe, was „Mann sein“ bedeutet. Schließlich habe ich Jahre von Therapie hinter mir, habe mich Operationen unterzogen, mich von diversen Ärzten begutachten lassen, Psycho-Tests gemacht und beim Amtsgericht vorgesprochen – alles um am Ende in meinem Pass das „Heike, weiblich“ in „Nicolai, männlich“ ändern zu lassen (übrigens nicht ohne eine schwierige Phase von „Nicolai, weiblich“ hinter mich bringen zu müssen).
Positive Ich-Visionen
Ich bereue nichts und bin mir sicher, dass dies der richtige Weg für mich war und ist. Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Anders als früher, scheint das Leben für mich so viele Optionen bereit zu halten, es gibt so viele Dinge, die ich tun möchte, die ich ausprobieren möchte und die ich vor der Angleichung für unerreichbar hielt.
Der große Unterschied zu damals ist, dass ich nun positive Visionen von meinem zukünftigen Ich habe. Ich kann mich und mein Leben selbst gestalten und sehe dafür viele, viele Möglichkeiten.
Und trotzdem: Grenzen
Und trotzdem stehe ich oft vor den gleichen Grenzen, die ich von früher kenne. Nur stehe ich jetzt auf der anderen Seite. Und je nachdem, ob ich mich an diese Grenzen halte, reagiert mein Gegenüber dann mit positiver Bestärkung oder Irritation oder Geringschätzung oder Abwehr. Genauso wie damals. Mit dem Unterschied, dass das, was ich früher durfte oder sollte, jetzt oft das Gegenteil von dem ist, was man jetzt von mir erwartet. Gleiches Verhalten, andere Wertung.
Ein Beispiel: Die Heulgrenze
Kurz nach meiner Angleichung wurde ich zum ersten Mal bewusst mit der „Heulgrenze“, wie ich sie jetzt mal nennen will, konfrontiert. Damals saß ich mit einer Freundin, die mich schon vor der Angleichung kannte, in meiner WG-Küche. Ich hatte ein Tief und die Tränen flossen. Statt wie früher mit Verständnis und Trost zu reagieren, kommentierte sie mein Weinen mit „Bist du ein Mann oder ein Mürbchen?“ (für die Nicht-Rheinländer unter euch: ein Mürbchen ist ein süßes Brötchen).
Ich war perplex. Bisher, als Mädchen und junge Frau, war weinen zwar auch nicht besonders cool gewesen, aber dieses Tabu, das hier auf einmal im Raum stand, war neu. Ich hatte die Heulgrenze überschritten! Weinen war als Mann nicht mehr drin.
Dieser Satz „Bist du ein Mann oder ein Mürbchen“ war Ritterschlag und Abwatschen zugleicht. Ich wurde als Mann anerkannt, aber die Konsequenz folgte auf dem Fuße: Ab jetzt sollte ich mich bitte nicht mehr so anstellen. Ich schämte mich und habe mich in den folgenden Jahren mit „Weinen in der Öffentlichkeit“ immer mehr zurückgehalten (obwohl ich das Leben oft zum Heulen finde).
Ich frage mich seitdem: Weinen Männer weniger als Frauen? Und wenn ja: Haben Männer etwa von Natur aus weniger intensive Gefühle?
Mal ehrlich, wer glaubt denn das? Sollten Männer tatsächlich weniger weinen, dann liegt das wohl eher daran, dass sie auf der falschen Seite der „Heulgrenze“ stehen. Auf der „Männer-Seite“ der Heulgrenze, bedeutet weinen anscheinend einen Gesichtsverlust. Und Verhalten, das nicht positiv verstärkt wird, vermeidet man eben.
Rosa Röcke und blaue Hosen
Es gibt unzählige solcher Grenzen, die dazu führen, dass ich mich manchmal richtig, manchmal falsch fühle: Da wäre die „Rock-Hose-Grenze“, die neuerdings wieder sehr beliebte „Rosa-Hellblau-Grenze“, die „Ponyhof-Grenze“, die „Strick-und-Handarbeit-Grenze“, die langsam bröckelnde „Fußball-Grenze“, die „Naturwissenschaft-Grenze“, die „Informatik-Grenze“, die „Make-Up-Grenze“, die „Puppenküchen-Grenze“, die „Lego-Technik-Grenze“ usw.
Wir sind alle sehr gut darin, Grenzen zu konstruieren, wo es vorher keine gab. Ich bleibe jetzt hier mal bei der Mann-Frau-Grenze, obwohl wir unzählige weitere binäre Gruppen konstruieren. Und ich sage konstruieren, weil ich keine Sekunde daran glaube, dass irgendwas an diesen Grenzen natürlich ist.
Grenzen sind Krücken
Sicher helfen diese Grenzen dabei, sich in einer Welt zurecht zu finden, die so komplex ist, dass wir oft den Überblick verlieren. Und ich ziehe natürlich selbst ständig irgendwelche Grenzen, um mir das Leben leichter zu machen.
Wenn wir aber diese Grenzen als naturgegeben ansehen und sie dazu führen, dass Menschen in ihrer Einzigartigkeit verschwinden; wenn Menschen ihre Talente nicht entfalten können, weil sie dummerweise auf der falschen Seite der Grenze stehen, dann pfeife ich auf diese Grenz-Krücke!
„Und das obwohl du trans* bist!?“, höre ich es mir entgegenschallen. „Und das, WEIL ich trans* bin!“, rufe ich zurück. Mit den gleichen Verhaltensweisen einmal auf Anerkennung und einmal auf Abwertung zu stoßen, lässt mich einfach die Bewertung dieser Verhaltensweisen und die Bewertungsgrundlage dahinter hinterfragen.
Dann lieber Mürbchen
Ich weiß wirklich nicht, was in mir das Gefühl auslöst, dass ich auf der „Männerseite“ richtiger bin. Wer sich hier eine Antwort erhofft hat, den muss ich enttäuschen. Aber ich weiß, dass es keinen Unterschied macht, ob ich rosa oder hellblau trage; dass ein Rock am Ende nur ein Stück Stoff ist; dass Jungs, die häkeln, nicht uncool sind, und Mädchen nicht zu doof für Informatik. Und ich weiß, dass ich immer noch derselbe Mensch bin, wenn ich weine und ich mich nicht dafür schämen werde. Dann bin ich lieber ein Mürbchen und stolz darauf!